Tobias Sammelsurium der Woche #04/2025
Je schriller die Töne, desto schwacher der Inhalt. Die Kakophonie der lautesten Meinungen scheint sich dieser Tage auf ihr finales Crescendo vorzubereiten. Ob Berlin, Washington oder auf Social Media: Es vibriert heftig, im Verborgenen wie auf der öffentlichen Bühne.
Wir erleben gerade, was passiert, wenn alle senden, aber keiner mehr zuhört. Links wie rechts echauffiert man sich über Maulkörbe und darüber, dass der eigenen Position kein Gehör geschenkt würde. Alle glauben, sie stehen auf der richtigen, aber unterdrückten Seite.
Was da aufgeführt wird ist Moraltheater vom allerfeinsten. Jede*r weiß alles und das auch noch am Besten. Wichtig ist dabei nur, dass man sich nicht selbst in Frage stellen muss.
Alle leben in ihrer eigenen Blase und jede Blase baut sich, widewidewitt, wie es ihr gefällt, ihre eigene Moral. Gesellschaftlicher Konsens ist unerwünscht. Man könnte ja von den eigenen Überzeugungen abrücken müssen. Der dahinter liegende Wunsch nach einwandfreien Entscheidungen, richtigen Lösungen und einfachen Auswegen ist eine Fata Morgana. Immer wenn man denkt, man sei bald da, ist die Illusion schon wieder woanders.
Als aufgeklärte Menschen des 21. Jahrhunderts müssen wir damit leben können, dass zwei Dinge zur gleichen Zeit richtig sein können. Frieden ist wichtig, aber Verteidigungsbereitschaft eben auch. Gesellschaftliche Liberalität funktioniert nicht ohne starke, durchgesetzte Regeln. Erneuerbare Energien sind unverzichtbar, grundlastfähige Stromversorgung allerdings auch. Der ökologische Wandel ist unabdingbar, funktioniert aber nur mit einer starken wirtschaftlichen Basis. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.
Menschen sind nicht einfach. Gesellschaften sind nicht einfach. Veränderung ist nicht einfach. Und: Zwei vermeintlich gegensätzliche Dinge können zur gleichen Zeit richtig sein.
Ich wünschte mir, auf Parteitagen würden Menschen mit politischer Macht statt Remigration die Wörter Komplexität und Ambivalenz mit Verve und Silbe für Silbe in den Saal schleudern: Kom·ple·xi·tät, Am·bi·va·lenz!
Das wäre unbequem. Denn dann müssten wir alle wieder mitdenken und könnten die Probleme nicht einfach an »die da oben« wegdelegieren. Es gibt eben keine einfachen Antworten. Darin läge aber auch die Chance, aus unseren Blasen rauszukommen und die Herausforderungen von Klimakatastrophe, Wirtschaftskrise, Migration und Trump als gemeinsame Chance zu begreifen. Das wäre doch ein Anfang.
Dir ein fragendes Wochenende!
T.
P/S Ein bisschen Spaß muss trotzdem sein: »Kommt ein Pferd in einen Blumenladen und fragt: Haben sie Margeriten?«
Post der Woche
Fünf fürs Wochenende
Im Schlafzimmer und beim Einparken
Welche Sätze kann man gleichlautend im Schlafzimmer und beim Einparken verwenden? In der Sendung » I'm Sorry I Haven't a Clue.« bei BBC Radio 4 ist man auf die Suche gegangen und hat ein paar Juwelen entdeckt. British Humor at its best. Tränen sind sehr wichtig, vor allem gelachte.
» Probably not safe for work
Everyday
Seit dem 01.10.2000 fotografiert Noah Kalina sich jeden Tag selbst. Mittlerweile sind 9085 Tage vergangen und so kann man Noah vom College-Zimmer bis heute begleiten. Eine Reise durch die oft unscheinbaren aber unaufhaltsamen Veränderungen des Lebens.
» Lebens-Selfie – Selfie-Leben
Tanzende Kugeln
Johann Sebastian Bachs »Das wohltemperierte Klavier« ist ein guter Anlass abzuschalten und den eigenen Gedanken nachzuhängen. In dieser Version wird es es von Glenn Gould gespielt und mit animierten Kugeln visualisiert. Besonders beeindruckend daran ist, dass die Animation aus dem Jahr 1969 stammt, als von 3D-Software noch niemand auch nur träumte.
» 7:37 Minuten für dich
Ein Musiker schafft sich ab?
Valentin Hansen ist ein produktiver Musiker. Er veröffentlicht alle zwei Minuten einen neuen Song. Jeder Song dauert zwei Minuten. Er macht das seit Mitternacht am Neujahrstag. So sind mittlerweile knapp über 16.000 Songs entstanden. Hansen hat keinen dieser Songs selbst produziert, aber er hat die KI entwickelt, die seine Songs produziert. Sind es also seine Songs? Ist das Kunst? Kann man das hören? Ein Experiment, das viele Fragen stellt und seine Antworten direkt mitliefert. Alle zwei Minuten neu. Bis Ostern soll das Album »Running« auf 50.000 Songs anwachsen.
» Achtung, hier kann man sich beim Zuhören verlieren
Dawn is a Melody
Was kommt nach zwei Musik-Links? Klar, ein dritter Musik-Link. Nach Bach und KI-Musik möchte ich auf den australischen Jazz-Musiker Finn Rees hinweisen, der mit seiner Combo 30/70 in Melbourne relaxte Klänge produziert. Sein Album »Dawn is a Melody« klingt genau so, wie ein goldener Morgen. Genau das richtige Gegenprogramm für graue, regnerische Wintertage. Das Album findet man auch auf Spotify und Apple Music.
» Song-Empfehlung: Looking up
Damals geschrieben
#04/2024: Der frühe Samstagmorgen. Niemand wird verurteilt.
#04/2023: Das Möbelrücken. Der Unterhosensuff.
Gedanke der Woche
»Nicht alle Konflikte kann man lösen, muss man aber auch nicht.«
Bild der Woche
Frage der Woche
Welche drei Menschen der Zeitgeschichte würdest du zu einem Abendessen einladen?
Die geheime Durchhaltsache
Der Versuch 2025, statt eines großen Vorsatzes, eine kleine Sache jeden Tag zu machen.
17.01. bis 23.01: 5/7 | Insgesamt: 18/23 | Stimmung 🤔